


Ambulantes Operieren – defizitäre Organisationsstrukturen
23.11.2012
Ambulantes Operieren – Lebensgefahr in der Arztpraxis
spiegel.de | Ob Zahn-OP, Gelenkspülung oder Polypen-Entfernung: Immer mehr Eingriffe werden in Arztpraxen durchgeführt. Die Qualität der Praxis-Narkosen wird nicht kontrolliert. Eine tödliche Gefahr, warnen Experten.
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08.06.2012
Vollnarkosen bei Kindern: "Praxen missachten oft medizinische Standards"
stern.de | Tod auf dem Zahnarztstuhl
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04.06.2012
Ambulante Zahnoperationen: "Experten kritisieren eine Billiganästhesie – gerade bei ambulanten Zahnoperationen würden fachliche Standards nicht eingehalten."
spiegel.de | Vollnarkose für Kinder besonders riskant
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1. Aktuelle Rechtsprechung: „Haftungsrichter zunehmend als Bundesgenossen zur Aufrechterhaltung des Standards betrachten“.
Neelmeier T, Schulte-Sasse U (Rechtsmedizin 2012): „Die Markttransformation des Gesundheitswesens hat die Leistungserbringer neuartigen, teilweise adversen Anreizsystemen ausgesetzt. Während sich die Rechtsprechung früher mit Problemen der Teilhabe am (technischen) Fortschritt in der Medizin zu beschäftigen hatte, steht sie heute vor der Herausforderung, einen Rückschritt gegenüber dem bereits erreichten Standard zu verhindern.“
„Die Vizepräsidentin des BGH Müller beschrieb den Paradigmenwechsel schon 2008 in ihrem Beitrag „Arzthaftungsrecht in Zeiten knapper Kassen“ [Müller 2008]1. Zwar gelte in der deutschen Rechtsprechung der Grundsatz, wonach aus wirtschaftlichen Erwägungen keine Abstriche gemacht werden dürften vom gebotenen Mindeststandard. Aus den Reihen der Leistungserbringer drohe jedoch eine ökonomisch motivierte „schleichende Reduzierung des Standards“, also ein Qualitätsunterbietungswettbewerb. Dem müsse die Justiz begegnen durch erhöhte Wachsamkeit und verstärkte Kooperation mit den Medizinern, die die „Haftungsrichter zunehmend als Bundesgenossen zur Aufrechterhaltung des Standards betrachten“. Dazu passend fordert Stüwe (Chefredakteur Deutsches Ärzteblatt) einen „Rechtsrahmen, der Wettbewerb um Qualität ermöglicht und fördert. Der wird zwar häufig beschworen, aber wo ist er Realität?“ [Stüwe 2011]2
„Die Politik hat gezielt einen Verdrängungswettbewerb unter den medizinischen Leistungserbringern initiiert. Dieser Wettbewerb braucht klare Regeln, die gegenüber den Entscheidungsträgern in Kliniken und Praxen auf allen Organisationsstufen durchgesetzt werden. müssen. Hierzu bedarf es auch der Mittel des Strafrechts, wenn durch erhebliche Mängel in der personellen oder apparativen Infrastruktur Patienten vorhersehbar zu Schaden gekommen sind.
Justiz und ärztliche Sachverständige sind aufgerufen, sich als Bundesgenossen einer schleichenden Reduzierung des Versorgungsstandards zu widersetzen und auf diese Weise Wettbewerbsnachteilen
für qualitätsorientierte Anbieter entgegenzutreten.“
Zitiert aus: Neelmeier T, Schulte-Sasse U (2012) Hypoxie durch Organisationsverschulden – Forensische Begutachtung von Führungsverhalten in Gesundheitseinrichtungen. Rechtsmedizin 22: 406-413
2. „Fatale Tendenz in der Praxis ambulanten Operierens Kostenfaktoren‘ zu reduzieren, auch wenn dies mit erkennbaren Risiken für Leib und Leben der behandelten Patienten verbunden ist“
Neelmeier T, Schulte-Sasse U (Rechtsmedizin 2012): „In der forensischen Praxis ist zu beobachten, dass sich defizitäre Organisationsstrukturen vergleichsweise häufig in anästhesiologischen Komplikationen konkretisieren. Die Anästhesie ist von der Markttransformation des Gesundheitswesens besonders betroffen, weil sie im Kern ein Sicherheitsdienstleister ist, der anderen Fächern die Stellung erlöswirksamer Eingriffsindikationen ermöglicht, selbst jedoch als Kostenfaktor einen beliebten Ansatzpunkt für Sparmaßnahmen darstellt.“
Die Sicherheit des Patienten erfordert es, dass neben dem Narkosearzt – Personalkosten verursachend – anästhesiologisch geschultes Assistenzpersonal bei und nach der Versorgung von operativen Patienten in Vollnarkose tätig wird: Der Fachverband der Narkoseärzte hierzu [DGAI/BDA Entschließungen, Empfehlungen Vereinbarungen]3: „Das Anästhesieverfahren hat dem Facharztstandard zu entsprechen; dies gilt auch für die postoperative Betreuung. Es ist speziell eingearbeitetes Assistenzpersonal mit ausreichender Qualifikation in ausreichender Zahl erforderlich.“
Konkret bedeutet dies:
1. „Anästhesieschwester“: Eine speziell qualifizierte Fachpflegekraft unterstützt den Narkosearzt bei Einleitung und Ausleitung der Narkose und muss jederzeit während des Eingriffs zur Unterstützung – sofort - zugezogen werden können.
2. „Aufwachraumschwester“: Anästhesiologisch geschultes Assistenzpersonal ist jedoch nicht nur während des Eingriffs unverzichtbar. Eine weitere anästhesiologisch geschulte, speziell qualifizierte Fachpflegekraft muss die Patienten im Aufwachraum versorgen:
Nach einer Operation in Vollnarkose ist der Patient seit Jahrzehnten bekannten Gefahren ausgesetzt – so drohen hier insbesondere Atemdepression, Atemwegsverlegung, Atemstillstand. Damit diese typischen Risiken sich nicht in schwerster Sauerstoffmangelschädigung (hypoxischer Hirnschaden) und Tod verwirklichen, muss jeder Patient – ob im Krankenhaus oder in einer Arztpraxis - im Anschluss an eine Operation in Vollnarkose von einer speziell qualifizierten Pflegekraft (auf dem Niveau des „Fachpflegstandard“, eine Qualifikation, über die eine Praxishelferin typischerweise nicht verfügt) in einem apparativ speziell ausgestatteten Aufwachraum, kontinuierlich, lückenlos überwacht werden, solange „bis er wieder im Vollbesitz seiner Schutzreflexe und kooperativ, zeitlich und örtlich orientiert ist und von Seiten der Vigilanz, der Atmung und des Kreislaufs keine Komplikationen zu erwarten sind.“ [DGAI/BDA Entschließungen, Empfehlungen Vereinbarungen]3
Die Personalkosten für die anästhesiologisch geschulte Fachpflegekraft im Operationssaal fallen nicht an, wenn der Narkosearzt allein arbeitet; die Personalkosten für die anästhesiologisch geschulte Fachpflegekraft fallen ebenfalls nicht an, sie werden eingespart – wenn die Überwachung im Aufwachraum – an medizinische Laien – wie Eltern oder Angehörige – übertragen wird. Solche Personalkosten sparenden, die Vorgaben der Fachverbände verletzenden Organisationsstrukturen wurden für die Patienten bzw. ihre Angehörigen erst im Zusammenhang schwerster Patientenschädigung und Todesfällen sichtbar.
Hierzu wurde auf dem Medizinstrafrechtstag des Deutschen Anwaltvereins [Lindemann 2012]4 besorgt berichtet über „eine fatale Tendenz in der Praxis ambulanten Operierens […], die mit einer adäquaten anästhesiologischen Versorgung verbundenen ‚Kostenfaktoren‘ zu reduzieren, auch wenn dies mit erkennbaren Risiken für Leib und Leben der behandelten Patienten verbunden ist.“ Besondere Beachtung in diesem Zusammenhang fand ein Fall aus Hessen, in dem neben dem Anästhesisten auch der operierende Zahnarzt wegen fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB) zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde: Das Amtsgericht Limburg a.d. Lahn verurteilte am 25.03.2011 den Anästhesisten zu einem Jahr und sechs Monaten sowie den Zahnarzt zu einem Jahr und drei Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung wegen fahrlässiger Tötung gem.§ 222 StGB. Nach Berufungshauptverhandlung wurde das Verfahren eingestellt gem. § 153a StPO gegen Geldauflagen von jeweils € 20.000,- für beide Angeklagten aufgrund Beweisunsicherheiten bei der Kausalität der Pflichtverletzungen (Wetzlarer Neue Zeitung v. 12.05.2012)5
Ausführlich hierzu:
- Neelmeier T, Schulte-Sasse U (2012) Hypoxie durch Organisationsverschulden – Forensische Begutachtung von Führungsverhalten in Gesundheitseinrichtungen. Rechtsmedizin 22: 406-413
Zum Artikel - AG Limburg a. d. Lahn: Urt. v. 25.03.2011 – 3 Js 7075/08 - 52 Ls, ArztR 2011; 46: 232-239
Zum Urteil - Neelmeier T (2011) Bin ich meines Kollegen Hüter? Strafbarkeit von Arztpraxisinhabern bei „Einkauf“ von Billig-Anästhesie. ArztR 46: 256-264
Zum Artikel - Hey HW (2012) Tod durch Rationalisierung. Forum für Zahnheilkunde 31: 4
- Schulte-Sasse U, Neelmeier T (2013) Strafbarkeit von Zahnärzten für anästhesiologische Komplikationen. Vertrauen ist gut, Vereinbarungen sind besser. NZB 48(1): 42-46
Zum Artikel Zum Literaturverzeichnis
1Müller G (2008) Arzthaftung in Zeiten knapper Kassen, 413–422. In: Müller G et al. (Hrsg) Festschrift für Günter Hirsch zum 65. Geburtstag. Beck, München
2Stüwe H (2011) Wettbewerb und die Folgen. Dtsch Arztebl 108:A2743
3 DGAI/BDA Entschließungen, Empfehlungen Vereinbarungen
4 Lindemann M (2012) Das Bild des Arztes in der neueren strafgerichtlichen Rechtsprechung, 9–30. In: AG MedizinR im DAV/IMR Düsseldorf (Hrsg.) Brennpunkte des Arztstrafrechts. Nomos, Baden-Baden
5 Wetzlarer Neue Zeitung (12.05.2012) S. 17
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