


Risiko für nosokomiale Infektionen: voll zu beherrschen? Nosokomiale Infektionen als Folge von (‚Hygiene’-)Fehlern patientenferner Entscheider 12
In deutschen Gesundheitseinrichtungen treten nach Schätzungen jährlich zwischen 400.000 und 1.000.000 nosokomiale Infektionen auf3. Die Medien berichten von 40.000 Todesfällen im Zusammenhang mit „Killerkeimen im Krankenhaus“ (Anne Will, ARD vom 27.08.2010). „Es gebe im Bereich der Krankenhaushygiene ein großes Problem, auf das der Gesetzgeber dringend reagieren müsse“ (Spiegel online vom 24.08.2010). Die Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich „für schärfere Hygiene-Regeln ausgesprochen“ (www.stern.de vom 25.08.2010).
Experten haben jüngst den Versuch unternommen, auf der Basis wissenschaftlicher Untersuchungen, realistische Zahlen zur Häufigkeit vermeidbarer nosokomialer Infektionen zu nennen. In einem Kommentar heißt es4: „Zusammenfassend ergibt sich, dass die verfügbaren Daten keine exakte Bezifferung der Problematik nosokomialer Infektionen und ihrer Vermeidbarkeit erlauben. Die Daten können allerdings als Grundlage für Hochrechnungen (…) dienen. Die damit verbundenen Einschränkungen berücksichtigend, kann angenommen werden, dass von den jährlich 400.000 bis 600.000 nosokomialen Infektionen ca. 80.000 bis 180.000 potentiell vermeidbar sind. Damit verbunden sind zwischen 1.500 bis 4.500 vermutlich vermeidbare Todesfälle pro Jahr in deutschen Krankenhäusern.“
Es braucht ein ganzes Bündel von Maßnahmen, um Patienten zuverlässig vor nosokomialen Infektionen zu schützen: Dazu gehören die Standardhygiene (insbesondere die hygienische Händedesinfektion), die zeitnahe Beobachtung und Analyse von mikrobiologischen Untersuchungen und Antibiotika-Empfindlichkeiten (sog. Surveillance) sowie die Kontrolle des Einsatzes von Antibiotika durch Experten (sog. Antimicrobial Stewardship).
Es mangelt nicht an patientenfern erstellten Standards, Empfehlungen, Richtlinien, Leitlinien, Hygieneverordnungen, ja sogar Gesetzen, die auf stringente Umsetzung (www.dgkh.de, 2009) warten. Dagegen existieren zu wenig „patientennahe Hände“, die sich korrekt desinfizieren können. Es gibt also zu wenig qualifiziertes Personal, das die geforderten Maßnahmen der Surveillance oder des Antimicrobial Stewardship umsetzen würde. Es ist vor allem diese lange bekannte56, Diskrepanz, die, wie die Medien sagen, „Tausenden das Leben kostet“ (www.sueddeutsche.de vom 16.04.2010).
Es genügt keinesfalls, evidenzbasierte Richtlinien für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention zu erstellen und bekanntzumachen, um nosokomiale Infektionen zu verhüten7. Damit aber „alle im Gesundheitswesen Tätigen alle relevanten Empfehlungen stets einhalten“ (zero tolerance)8, ist es „unabdingbar, dass die wichtigsten Entscheidungsträger (…) sowohl das Behandlungsteam als auch das Hygienefachpersonal angemessen bei der Umsetzung unterstützen“9. Diese angemessene Unterstützung fehlt, weil sie (Personal-) Kosten verursacht. Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) berichtet in diesem Zusammenhang über „gefährliche Auswirkungen für Patienten“ infolge des „drastischen Personalabbaus“ in den vergangenen Jahren: „Jetzt zeigen sich die Auswirkungen der kritisch ausgedünnten Personaldecke immer stärker. Mängel in der pflegerischen Versorgung stellen nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel dar (DBfK vom 25.08.2010 )“. Die enorme Arbeitsdichte der Pflegenden lässt offensichtlich nicht immer ausreichend Zeit, um vor und nach jedem Patientenkontakt eine adäquate Händedesinfektion durchzuführen10.
Mit dem Ziel Personalkosten zu reduzieren und Fallzahlen zu steigern, werden in einer Zeit, in der es „nur noch um Tempo und Geld geht“, Betriebsabläufe geschaffen und unterhalten, die – weil hochgefährlich – geeignet sind, über die Zeit Dritte erheblich zu gefährden.
Vor diesem Hintergrund wird das Personal in den Krankenhäusern auch weiterhin unter den Bedingungen ‚Zu-wenige-Hände-versorgen-zu-viele-Kranke’ („understaffing and overcrowding“) zu arbeiten haben. Kliniker werden auch weiterhin auf handlungsleitende Surveillance Daten verzichten müssen. Mit traurigen Einzelschicksalen werden die Medien auch weiterhin über nosokomiale Infektionen am „Tatort Krankenhaus“ berichten und in der Folge wird erneut der Ruf nach schärferen Hygieneregelungen laut werden, ein Kreislauf, der keine nosokomiale Infektionen verhütende Wirkung entfalten kann.
Es mag vordergründig einfacher sein, die Ursachen für die Zunahme von nosokomialen Infektionen vor allem im individuellen Fehlverhalten der patientennahe Handelnden zu suchen, ein bei Gesundheitsmanagern und Gesundheitspolitikern wiederholt zu beobachtendes Denkmuster. Aber: ein solcher, wesentliche Risiken ausblendender Zugang zu der Problematik hat es über viele Jahre nicht vermocht, das Risiko für den vermeidbaren Teil nosokomialer Infektionen tatsächlich – wie vom BGH formuliert – voll zu beherrschen.
Es ist für die Richtlinienersteller und Personalzuteiler – den patientenfernen Entscheidern – überfällig sich der Erkenntnis zu stellen, dass mit der Fokussierung auf Hygienefehler, „begangen“ von patientennahen Individuen, die Ursache für vermeidbare nosokomiale Infektionen aus dem Blickfeld gerät: das Versagen eines Systems!
1 Schulte-Sasse U. Risiko für nosokomiale Infektionen: voll zu beherrschen? Nosokomiale Infektionen als Folge von (‚Hygiene’-)Fehlern patientenferner Entscheider. Die gedruckte Fassung des Artikels ist in Krankenh hyg up2date 2010; 5: 277-292 veröffentlicht. Außerdem ist der Artikel im E-Journals-System von Thieme enthalten. Das Copyright für den Artikel besitzt der Thieme Verlag
Zum Artikel
2 Schulte-Sasse U. Krankenhausinfektionen: Wenn zu wenige Hände zu viele Kranke versorgen. Die Schwester Der Pfleger 2011; 50: 60-62
Zum Artikel
(Mit freundlicher Genehmigung der Schriftleitung Die Schwester Der Pfleger)
3 Anschlag M. Krankenhaushaftung – Beweiserleichterungen bei Hygienemängeln. MedR 2009; 27: 513-516
4 Gastmeier P, Brunkhorst F, Schrappe M, et al. Wie viele nosokomiale Infektionen sind vermeidbar? Dtsch Med Wochenschr 2010; 135: 91-93
5 Clements A, Halton K, Graves N et al. Overcrowding and understaffing in modern health-care systems: key determinants in meticillin-resistant Staphylococcus aureus transmission. Lancet Infect Dis 2008; 8: 427-434
6 Dancer SJ. Control of transmission of infection in hospitals requires more than clean hands. Infect Control Hosp Epidemiol 2010; 31: 958-960
7 Exner M, Just HM. Personelle und organisatorische Voraussetzung zur Prävention und Kontrolle nosokomialer Infektionen. Bundesgesundheitsbl 2009; 52: 889-890
8 Nassauer A, Fouquet H, Mielke M. Zur Beherrschbarkeit von Infektionsrisiken - Primum non nocere: Anmerkungen unter Berücksichtigung von Hygienestandards im Arzthaftungsrecht. Bundesgesundheitsbl 2009; 52: 689-698
9 Simon A, Exner M, Kramer A et al. Umsetzung der MRSA-Empfehlung der KRINKO von 1999 - Aktuelle Hinweise des Vorstands der DGKH. Hyg Med 2009; 34: 90-101
10 Isfort M, Weidner F, Kraus S et al. Intensivpflege unter Druck. PflegenIntensiv 2010; 3: 6-11